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Von der Web-Seite der Bürgerinteressengemeinschaft Gartenstadt/Glemstal e.V., Leonberg
Autor: Renate Wohlbold, 05 Dec. 2005 11:37

Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten

Warum jede neue Straße eine schlechte Idee ist / Wie man Verkehr einfach zum Verschwinden bringt

"Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten" - ein Satz, der seit Jahren von einigen Verkehrsplanern und -forschern anerkannt und verbreitet wird. Doch von Politikern und Planern wird meist mit dem Gegenteil argumentiert: irgendwie würden neue, breitere Straßen den Verkehrsstrom reduzieren. Die Realität widerspricht dieser Hoffnung, und auf der ganzen Welt ist das Ergebnis das gleiche - die Straßen werden gebaut, und die Autos kommen.

Alte Erkenntnisse, immer wieder ignoriert

Frankreichs wichtigste Nord-Süd-Autobahn führt mitten durchs Herz von Lyon, der zweitgrößten Stadt des Landes. Vor 1992 fuhren rund 100.000 Autos pro Tag durch die Stadt, und so wurde beschlossen, eine Umgehungsstraße zur Reduzierung des Verkehrs zu bauen. Acht Jahre später wird diese von rund 80.000 Wagen pro Tag frequentiert, 90.000 fahren auf der alten Strecke. Es handelt sich somit um eine Reduzierung um 10 Prozent auf der alten Strecke, jedoch um eine allgemeine Verkehrszunahme um 70%. Derzeit sind zwei neue Umgehungsstraßen in Planung, beide wiederum mit dem Anspruch, den Verkehr zu reduzieren.

Bereits 1938 kommentierte eine englische Studie die Eröffnung der britischen "Great West Road", die "viereinhalbmal mehr Fahrzeuge als die alte Straße trug; und doch war keine Reduzierung im Verkehrsfluss bemerkbar, und von diesem Tag an stieg die Anzahl der Autos ohne Unterlass" diese Zahlen sind beispielhaft für die erstaunliche Weise, in welcher neue Straßen mehr Verkehr nach sich ziehen."

Dieses Konzept kann jedoch nicht nur in der Vergangenheit oder bei einigen wenigen radikalen Forschern gefunden werden: "Es erscheint nur logisch, daß der Bau von neuen Straßen - oder anderer Infrastruktur - die Menschen ermuntert, eben diese neuen Kapazitäten zu nutzen," ist in dem Bericht "Infrastructure-Induced Mobility" der Europäischen Konferenz der Verkehrsminister zu lesen. "Die Experten haben keinen Zweifel mehr daran, dass durch Straßen herbeigeführte Mobilität ein real existierendes Phänomen ist."

Was war zuerst da - Straßen oder Autos?

Selbst wenn neue oder breitere Straßen nicht tatsächlich neuen Verkehr erzeugen, so ermöglichen sie ihn doch und machen damit ebenfalls den Weg frei für eine Infrastruktur, die die Menschen immer weiter weg von ihren täglichen Zielen bringt. Der heutige Verkehr in England beispielsweise hätte keinen Platz im Straßennetz der 50er Jahre. Natürlich haben auch andere Faktoren zu der wachsenden Motorisierung beigetragen; doch handelt es sich hier offenbar um das Problem von "Henne und Ei" - was war zuerst da? Der Zuwachs wäre nie möglich gewesen ohne die gleichzeitige Einrichtung von Straßen und abnehmende Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr.

Bei einigen Beispielen konnte sogar bezeugt werden, dass tatsächlich die neuen Straßen der Hauptfaktor im Verkehrszuwachs waren. In diesen Fällen war der Wachstum von Verkehr auf den weiterentwickelten Straßen deutlich größer als in den umliegenden Gegenden.

Die Ringstraße M25 um London wurde 1986 eröffnet. 1992 war das Verkehrsaufkommen dort um 55% größer als vorhergesagt, während in den umliegenden Gebieten der Verkehr nur um 1 bis 3 Prozent wuchs. 30 bis 45% des Zuwachses scheinen somit keine Erklärung zu haben. Ähnliche Ergebnisse wurden für weitere Straßen gefunden.

Ein Bericht von 1994, der 151 Fälle in Großbritannien untersuchte, führt zu dem Schluß, daß eine "normale" Straßenerweiterung den Verkehr kurzfristig um 10%, langfristig um 20% wachsen lässt. Weitere 85 Fälle zeigten, dass eine durchschnittliche Umgehungsstraße das Verkehrsaufkommen um 25% über das vorhergesagte Niveau der ursprünglichen Straße ansteigen lässt. Der Report führt auch ähnliche gründliche Studien aus Deutschland, Spanien, Frankreich, Österreich und Schweden an.

Eine Untersuchung von 30 städtischen Gebieten in den USA durch die University of California ergab, dass ein Zuwachs von 1% Straßenkilometern einen Zuwachs von 9% an Verkehr innnerhalb der nächsten fünf Jahre erwarten lässt; auch hier wird der angeblich erleichternde Effekt von Straßen verneint.

In der Welt der Verkehrsforschung scheint beinahe Übereinstimmung erreicht zu sein: die Ausweitung der Straßenkapazitäten ermuntert immer mehr Menschen, ihr Auto verstärkt zu nutzen. Oder wie es Roy Kienitz vom Surface Transportation Policy Project ausdrückte: „Es ist wie der Versuch, Übergewicht loszuwerden, indem man den Gürtel lockert."

Wie man Autoverkehr zum "Verschwinden" bringt

Wie oft ist es schon geschehen: eine neue Siedlung sollte autofrei geplant werden, doch die gute Idee wurde wegen "überzeugender Vorhersagen des bevorstehenden Verkehrschaos in den umliegenden Gebieten" wieder begraben. Die meisten Menschen akzeptieren solche Argumente als Fakten, doch sind sie weit von der Wahrheit entfernt.

Mitte der 60er Jahre wurde den Bewohnern des New Yorker Stadtteils Greenwich Village ein Plan vorgesetzt, nach dem eine neue Hauptverkehrsstraße mitten durch den Washington Square Park führen sollte. Die Stadtplaner waren überzeugt, dass nur dies eine Lösung für den zu erwartenden Zuwachs an Verkehr sei, den sie von einem anstehenden Bauvorhaben erwarteten. Doch die Anwohner hatten nicht nur Erfolg beim Verhindern des Baus der neuen Straße, sie erreichten sogar, dass eine bereits bestehende Straße für den Autoverkehr geschlossen wurde. Die Prophezeiungen von Chaos und Untergang bewahrheiteten sich nicht - der vorhergesagte Verkehrszuwachs fand nie statt.

Dieses Beispiel ist auch auf Europa übertragbar. "Verkehrsbeeinflussung durch Autostraßenkapazitätsreduzierung: Untersuchung des Nachweises" mag kein besonders aufregender Name für eine Studie sein, doch die Ergebnisse der Recherchen britischer Forscher im Jahre 1998 waren äußerst interessant. Über 100 europäische und weltweite Beispiele von Straßen, Brücken, Fahrspuren und Plätzen, die ganz oder teilweise für den Autoverkehr gesperrt wurden, wurden untersucht, die Vorher-Nachher-Zahlen des Verkehrsaufkommens wurden gesammelt. In 41 von 49 Fallstudien an Orten in Großbritannien, Deutschland, den USA, Japan und anderen Ländern war die Anzahl der Fahrzeuge, die nun umliegende Straßen frequentierten, geringer als die Zahl jener, die komplett "verschwanden". Ganz entgegen der üblichen Argumentation wurde durch die Sperrungen kein Stau erzeugt, sondern sogar der Verkehr in der gesamten Gegend reduziert.

In Nürnberg, wo sich Bürgerinitiativen seit mehr als 20 Jahren für eine autofreie Innenstadt einsetzten, wurde vor einigen Jahren eines der größten deutschen Fußgängerprojekte gestartet: 1988 wurde die letzte Hauptstraße, die den Rathausplatz kreuzte, geschlossen. Mit bedeutendem Erfolg: es verschwanden nicht nur die 25.000 Autos, die zuvor den Platz jeden Tag durchschnitten hatten, 17% des Verkehrs in den umliegenden Straßen lösten sich ebenfalls auf.

Ein anderes Beispiel ist die Londoner Tower Bridge über die Themse, die 1993 zeitweise geschlossen wurde. Nur 20% des Verkehrs verlagerte sich auf benachbarte Brücken, die restlichen 80% lösten sich auf. Während der Schließung kamen so 24% weniger Autos über die vier Themse-Brücken in Londons Zentrum.

Als nach dem Hanshin-Awaji-Erdbeben in Japan die Autobahnen repariert wurden, reduzierte sich das Verkehrsaufkommen um mehr als die Hälfte. Ein Teil der Fahrzeuge befuhr benachbarte Straßen, doch insgesamt wurde eine Verkehrsreduzierung um 26% festgestellt.

Langsame Bewusstseinsveränderungen

Doch wohin verflüchtigt sich der Verkehr? Die erwähnte britische Studie von 1998 hat hier gezeigt, dass sich viele Verhaltensweisen ändern, wenn andere Rahmen-, sprich: Straßenbedingungen vorliegen. Die Autofahrer, die die betroffenen Straßen regelmäßig und über längere Zeit benutzen, bemerken, dass sie ihre Route oder den Reisezeitraum ändern müssen - oder das Verkehrsmittel. Die meisten von ihnen werden nicht sofort ihr Auto verkaufen, doch die Zahlen zeigen, dass langsame Bewusstseinsveränderungen eintreten, "gemessen an der Geschwindigkeit anderer Veränderungen im Leben".

Die Studie fand aber auch heraus, daß "gewöhnlich mehr als 30%" (und auf lange Sicht sogar mehr als 80%) der Autofahrer, die nach der Schließung auf den umliegenden Straßen beobachtet wurden, andere waren als jene, die noch zuvor dort fuhren. Sicher hat dieses Ergebnis auch zufällige Ursachen, doch ebenso wurde festgestellt, dass viele Menschen ihren Wohnsitz oder Beruf, die Anzahl der Autos und andere Faktoren innerhalb eines Jahres verändern. Solange die Lebensumstände noch nicht von allzu großer Gewohnheit bestimmt sind, ist es leichter, sich an neue Bedingungen zu gewöhnen - und auch an den Gedanken, von nun an das Auto stehen zu lassen.

Obwohl die Reaktionen auf derartige Mittel zur Verkehrsreduzierung fünf bis zehn Jahre dauern können, sind bereits nach ein bis drei Jahren wesentliche Auswirkungen zu bemerken. Die Studie zeigt, dass nach Schließung einer Straße oftmals zunächst eine kurze Periode der Verwirrung entsteht, doch Stau oder Chaos sind nur selten und dauern höchstens ein paar Tage an. Danach verflüchtigen sich derlei Störungen und zumeist - und zum Erstaunen der Verkehrsplaner - sinkt auch das Verkehrsaufkommen auf den umliegenden Straßen. Der Bericht zitiert eine typische Bemerkung: "Der Verkehr ist verschwunden, und wir wissen einfach nicht, wohin."